Appell an Gelb und Grün vor den Verhandlungen zur Inneren Sicherheit Zusammen mit über 20 weiteren Bürgerrechtsorganisationen haben wir einen Brief an die VerhandlungsführerInnen von FDP und Bündnis90/Grüne geschrieben, um sie aufzufordern bei den Koalitionsverhandlungen zum Thema Innere Sicherheit die Grundrechte zu verteidigen.
Hoffen wir, dass damit das unsägliche und unnütze Kapitel Vorratsdatenspeicherung endgültig auf dem Scherbenhaufe der Geschichte (der Union) landet.
Update 31.10.2017: Ein erster Erfolg: Die Vorratsdatenspeicherung ist auf Platz 1 der noch offenen Streitfragen in den Koalitionsverhandlungen.
https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/Innen_Sicherheit_Rechtsstaat-1.pdf
Appell zu den Koalitionsverhandlungen zum Thema Innere Sicherheit Sehr geehrte Frau Peter, sehr geehrter Herr Lindner und Herr Özdemir,
mit unzähligen Überwachungsgesetzen[1] hat die „Große Koalition“ die Grund- und Freiheitsrechte schwer beschädigt. Von einem Jamaica-Koalitionsvertrag mit FDP und Bündnis90/Die Grünen erwarten wir eine Beseitigung der schädlichsten Altlast der „Großen Koalition“, nämlich der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten in Deutschland:
Die verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung ist die am tiefsten in die alltägliche Privatsphäre eingreifende und unpopulärste[2] Massenüberwachungsmaßnahme, die der Staat jemals hervorgebracht hat. Das 2015 beschlossene Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung verpflichtet Telekommunikationsgesellschaften Informationen über die Verbindungen ihrer sämtlichen Kunden aufzuzeichnen. Wochenlang soll nachvollziehbar sein, wer mit wem per Telefon, Handy oder E-Mail in Verbindung gestanden hat. Bei Smartphone-Nutzung ist auch der jeweilige Standort des Benutzers festzuhalten. Die Vorratsspeicherung von Internetkennungen (IP-Adressen) soll in Verbindung mit anderen Informationen nachvollziehbar machen, wer was im Internet gelesen, gesucht oder geschrieben hat.
Eine derart weitreichende Registrierung des Verhaltens der Menschen in ganz Deutschland ist für viele Bereiche der Gesellschaft höchst schädlich. Ohne jeden Verdacht einer Straftat sollen sensible Informationen über die sozialen Beziehungen (einschließlich Geschäftsbeziehungen), die Bewegungen und die individuelle Lebenssituation (z.B. Kontakte mit Ärzten, Rechtsanwälten, Psychologen, Beratungsstellen) von über 80 Millionen Bürgerinnen und Bürgern gesammelt werden. Damit höhlt eine Vorratsdatenspeicherung Anwalts-, Arzt-, Seelsorge-, Beratungs- und andere Berufsgeheimnisse aus und begünstigt Datenpannen und -missbrauch. Sie untergräbt den Schutz journalistischer Quellen und beschädigt damit die Pressefreiheit im Kern. Sie beeinträchtigt insgesamt die Funktionsbedingungen unseres freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens. Die enormen Kosten einer Vorratsdatenspeicherung sind ohne Erstattungsregelung von den Telekommunikationsunternehmen zu tragen. Dies zieht Preiserhöhungen nach sich, führt zur Einstellung von Angeboten und belastet mittelbar auch die Verbraucher. Auch unter Bezeichnungen wie „Quick Freeze Plus“ ist eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung inakzeptabel.[3].
Es hat sich herausgestellt, dass eine verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung zur Aufdeckung, Verfolgung und Bestrafung schwerer Straftaten überflüssig ist. Untersuchungen belegen, dass bereits die gegenwärtig verfügbaren Kommunikationsdaten ganz regelmäßig zur effektiven Aufklärung von Straftaten ausreichen. Es gibt keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass eine Vorratsdatenspeicherung besser vor Kriminalität schützte. Dagegen kostet sie Millionen von Euro, gefährdet die Privatsphäre Unschuldiger, beeinträchtigt vertrauliche Kommunikation und ebnet den Weg in eine immer weiter reichende Massenansammlung von Informationen über die gesamte europäische Bevölkerung.
Die verdachtsunabhängige und wahllose Vorratsdatenspeicherung hat sich als grundrechtswidrig erwiesen und gerichtlicher Überprüfung wiederholt nicht standgehalten. Im Juni 2017 wurde die gesetzliche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung vom Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen bereits für europarechtswidrig befunden und ausgesetzt (Az. 13 B 238/17). Die Bundesnetzagentur setzt das Gesetz nicht mehr durch. Nationale Gesetze zur Vorratsdatenspeicherung hat der Europäische Gerichtshof schon mehrfach verworfen (Az. C-203/15: Schweden und C-698/15: Großbritannien). Bis zu einem rechtskräftigen Abschluss der laufenden Verfahren könnten jedoch noch Jahre der Rechtsunsicherheit vergehen.
Als Vertreter der Bürgerinnen und Bürger, der Medien, der freien Berufe, der Justiz und der Wirtschaft lehnen wir eine flächendeckende und verdachtsunabhängige Vorratsdatenspeicherung geschlossen ab. Wir appellieren an die in der FDP/Bündnis 90/Die Grünen politisch Verantwortlichen, in den Koalitionsverhandlungen ein klares Bekenntnis zur Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten (§ 113a ff. TKG) in Deutschland einzufordern und auch die sogenannte „freiwillige“ Vorratsdatenspeicherung der Unternehmen (§ 100 TKG) auf besondere Anlässe und verdächtige Aktivitäten zu beschränken[4].
Die aktuelle Missachtung der europäischen Grundrechte-Charta muss beendet und die freie Kommunikation wieder hergestellt werden. Seien Sie sich unserer Unterstützung dabei versichert.
Nachweise:
1 Liste von Überwachungsgesetzen http://www.daten-speicherung.de/index.php/ueberwachungsgesetze
2 Meinungsumfrage zu Überwachungsgesetzen http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/infas-umfrage.pdf
3 AK Vorrat zu "Quick Freeze Plus" http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/ak-vorrat-stellungnahme_qf-e.pdf
4 AK Vorrat zur "freiwilligen Vorratsdatenspeicherung" http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/ak-vorrat-stellungnahme_it-sicherheitsgesetz_oa.pdf
Unterzeichner:
Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung
Aktion Freiheit statt Angst e.V.
Attac Deutschland
Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V.
Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler e.V.
Campact e.V.
Deutsche AIDS-Hilfe e.V.
Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union in ver.di
Deutscher Journalisten-Verband e.V.
Deutsche Vereinigung für Datenschutz e.V.
DFJV Deutscher Fachjournalisten-Verband AG
Digitalcourage e.V.
eco Verband der Internetwirtschaft e.V.
Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung e.V.
Humanistische Union e.V.
Internationale Liga für Menschenrechte e.V.
Lesben- und Schwulenverband LSVD
Netzwerk Recherche e.V.
Neue Richtervereinigung - Zusammenschluss von Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten e.V
Reporter ohne Grenzen e.V.
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.
Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V.
Whistleblower-Netzwerk e.V.
Mehr dazu bei http://www.vorratsdatenspeicherung.de/content/view/777/79/lang,de/
und der Brief an Bündnis90/Grüne http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/jamaika-appell-vds_gruene.pdf
und der Brief an die FDP http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/jamaika-appell-vds_fdp.pdf
Ein erstes Medienecho bei http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2015-10/vds-vorratsdatenspeicherung-millionen-kosten
und https://www.heise.de/newsticker/meldung/Streit-ueber-Vorratsdatenspeicherung-neu-entflammt-3876177.html
und https://www.golem.de/news/datenschutz-jamaika-koalition-soll-vorratsdatenspeicherung-beenden-1710-130885.html
und http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/vorratsdatenspeicherung-fdp-und-gruene-bei-terrorabwehr-unter-druck/20517436.html
Kommentar: RE: 20171029 Endgültig Schluss mit der Altlast Vorratsdatenspeicherung!
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich danke Ihnen für den Impuls. Bei der Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung handelt es sich um eine Forderung aus unserem Bundestagswahlprogramm. Natürlich werden wir diese auch im Rahmen der Sondierungs- und im Rahmen möglicher Koalitionsgespräche auf die Tagesordnung setzen.
Mit freundlichen Grüßen
Christian Lindner, 03.11.2017 16:32
RE: 20171029 Endgültig Schluss mit der Altlast Vorratsdatenspeicherung!
Liebe Freundinnen und Freunde,
herzlichen Dank für Ihren und Euren offenen Brief.
Das Schreiben erreicht die Sondiererinnen und Sondierer genau zur richtigen Zeit. Es richtet den Fokus auf die Massenüberwachung im Rahmen der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung der Telekommunikationsdaten aller Bürgerinnen und Bürger auf Vorrat. Wir Grüne sehen bekanntermaßen vor allem die Anlasslosigkeit der Maßnahme seit langem sehr kritisch.
Gemeinsam mit einer engagierten Zivilgesellschaft und zahlreichen Nichtregierungsorganisationen werden wir nicht müde, auf die verfassungsrechtliche Problematik der Maßnahme sowie die hierzu ergangenen Urteile von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof sowie die Unvereinbarkeit mit geltendem (EU-)Grundrecht hinzuweisen.
Nachdem es uns gemeinsam gelungen ist, die erste Vorratsdatenspeicherung der damaligen Großen Koalition vor dem Bundesverfassungsgericht zu Fall zu bringen, klagen wir wieder gegen die Neuauflage der jüngsten Großen Koalition, wenn auch diesmal getrennt. Gemeinsam haben 18 Kolleginnen und Kollegen der Grünen Fraktion geklagt – und ich bin zuversichtlich, dass unsere Argumente erneut gehört werden.
Die Vorratsdatenspeicherung wird derzeit nicht angewendet. Auch auf EU-Ebene findet eine Diskussion um eine Abkehr vom Prinzip der Anlasslosigkeit statt. Vor diesem Hintergrund wollen wir mit unserer Position – weg von Anlasslosigkeit und Massenüberwachung, hin zu einer zielgerichteten, polizeilichen Abwehr konkreter Gefahren – auch in den derzeit stattfindenden Sondierungen Gehör finden. Auch die Antwort von Christian Lindner auf Euren offenen Brief und die Tatsache, dass auch Liberale vor dem Bundesverfassungsgericht erneut klagen, stimmt zuversichtlich.
Mit herzlichen Grüßen und großem Dank für Ihr & Euer Engagement
Cem Özdemir, 10.11.2017 18:47
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